Vor zweihundert Jahren, 1817, erschien im Londoner Verlagshaus Sherwood, Neely and Jones eine kleine Monographie mit dem Titel „AN ESSAY ON THE SHAKING PALSY“ – auf Deutsch: „Eine Abhandlung über die Schüttellähmung“. Der Autor war James Parkinson, Mitglied der Royal Academy of Surgeons und ein vielseitig gebildeter, wissenschaftlich wie auch politisch aktiver Arzt, Apotheker, Geologe und Paläontologe. In dieser Monographie beschreibt Parkinson anhand von nur sechs Patienten – drei hatte er lediglich flüchtig auf der Straße getroffen – eine charakteristische Konstellation motorischer Krankheitssymptome, die auch heute noch den Kern dieser Erkrankung ausmacht und die als „Parkinson-Syndrom“ bezeichnet wird. Dazu gehört in erster Linie eine Verlangsamung und Verarmung aller willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen und das typische Zittern.
Parkinson-Patienten gehen mit kleinen schlurfenden Schritten, ohne die Füße anzuheben. Die Arme schwingen beim Gehen nicht mit. Die Mimik ist wie erstarrt, die Stimme leise und wenig moduliert. Bis vor wenigen Jahren hielt man die Parkinson-Krankheit für eine Erkrankung, die ausschließlich das motorische System betrifft, für eine Bewegungsstörung. James Parkinson selbst hatte geschrieben: „…the senses and intellect being uninjured“. Heute wissen wir, dass die Bewegungsstörung nur die Spitze des Eisbergs ist und dass die Erkrankung eigentlich schon zehn, viel leicht sogar zwanzig Jahre früher mit einer ganzen Reihe von nichtmotorischen Symptomen beginnt. Besonders häufig geht der Geruchssinn verloren. Es treten psychische Störungen wie Depressionen, Apathie und Ängstlichkeit auf, und das autonome Nervensystem wird beeinträchtigt, mit Auswirkungen für die Verdauung, den Blutdruck oder die Herzfrequenz. Auch Schlafstörungen sind häufig. Dennoch bleibt die Leistung von James Parkinson, die Erkrankung in ihrem klinischen Kern mit nur sechs Patienten richtig erfasst und definiert zu haben, auch nach zwei Jahrhunderten eine große Leistung.
Über die Ursachen konnte James Parkinson allerdings nur spekulieren. Aus der Verteilung der körperlichen Symptome, die er als Folge einer „Irregularität der Nervenimpulse“ betrachtete, schloss er, dass die Störung im zentralen Nervensystem angesiedelt ist, genauer gesagt in der Medulla oblongata. Das ist der Bereich, wo das Gehirn ins Rückenmark übergeht. Parkinson kam der Realität erstaunlich nahe. Im Jahr 1917, zu einer Zeit, in der die Lichtmikroskopie den medizinischen Fortschritt dominierte, wurde die pathoanatomische Ursache gefunden. Bei Parkinson sterben Nervenzellen in einer winzigen Region des Mittelhirns ab, in unmittelbarer Nähe zu der von James Parkinson inkriminierten Medulla oblongata. Die etwa 500 000 Nervenzellen dieser Gehirnregion, der Substantia nigra, versorgen über ihre Zellfortsätze weite Teile des Gehirns mit dem Neurotransmitter Dopamin. Arvid Carlsson entdeckte in den 1950er Jahren, dass ein experimentell hervorgerufener Verlust von Dopamin bei Versuchstieren Symptome erzeugt, die denen der Parkinson-Erkrankung frappierend ähneln. Dafür erhielt er im Jahr 2000 den Nobelpreis für Medizin. Mit Carlssons Entdeckung war eines der großen Rätsel der Parkinson-Erkrankung gelöst. Carlsson hatte gezeigt, dass die unmittelbare Ursache der motorischen Symptome in einem Mangel an Dopamin liegt. Der medikamentöse Ersatz von Dopamin durch Ärzte wie George Cotzias oder Walter Birkmayer in Wien in den frühen 1960er Jahren kam einer Revolution gleich. Durch die tierexperimentell erhobenen Daten war eine gezielte, biochemisch begründete Therapie entwickelt worden, die es unzähligen Patienten möglich machte, ihr Krankenlager zu verlassen und zumindest in begrenzter Form wieder zu einer Selbstständigkeit zurückzufinden. Die „Dopaminersatztherapie“ ist auch heute noch der Goldstandard jeder Parkinson-Behandlung.
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Trotz aller Einschränkungen, Mühen und Komplikationen, mit denen ein Parkinsonkranker und seine Familie leben müssen, schenkt die kombinierte medikamentöse und neurochirurgische Therapie vielen Parkinson-Patienten Jahre mit guter Lebensqualität. Aber der Kampf ist noch lange nicht gewonnen. Noch immer kann das Fortschreiten der Erkrankung nicht verhindert, ja nicht einmal wesentlich verlangsamt werden.
Zwei wesentliche Erkenntnisse der vergangenen zwanzig Jahren haben auch unser Bild von der Erkrankung massiv verändert. Zum einen wissen wir heute, dass Parkinson eben nicht nur eine Erkrankung des motorischen Systems ist und auch nicht im motorischen System ihren Ursprung hat, sondern schon viele Jahre vor den ersten motorischen Symptomen zu Störungen des Riechvermögens, des Schlafes oder auch zu Darmträgheit führen kann. Und zum anderen wissen wir, dass Parkinson eine komplexe genetische Erkrankung ist. Die Arbeiten des Frankfurter Neuroanatomen Heiko Braak haben gezeigt, dass sich mikroskopisch sichtbare krankheitsbedingte Veränderungen langsam und mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit im Gehirn ausbreiten. Erst wenn dieser Prozess nach Jahren oder Jahrzehnten die Dopamin produzierenden Zellen der Substantia nigra erreicht, treten die Symptome auf, die James Parkinson beschrieben hat: das Zittern, die Verlangsamung der Bewegungen und die gebeugte Haltung. Unaufhaltsam, aber mit einer von Patient zu Patient sehr unterschiedlichen Geschwindigkeit, setzt sich dieser Prozess weiter fort und befällt zuletzt die Hirnrinde, was zu zunehmenden Einschränkungen der geistigen Fähigkeiten bis hin zur Demenz führt. Das motorische Parkinson-Syndrom ist also nur ein kleiner Ausschnitt aus einem viel umfassenderen Krankheitsgeschehen.
Der zweite Paradigmenwechsel ist Folge der bahnbrechenden Entdeckungen der Molekulargenetik, die seit rund zwanzig Jahren die Neurologie und viele andere Bereiche der Medizin revolutioniert. Bis da hin galt die Parkinson-Erkrankung als Paradebeispiel einer sporadischen, also nicht genetisch bedingten Erkrankung. Dies änderte sich 1997 schlagartig, als die erste Genmutation für eine erbliche Form der Parkinson-Krankheit entdeckt wurde. Der Austausch eines einzigen Buchstabens des genetischen Alphabets in einem Gen, das Alpha-Synuklein heißt, führt dazu, dass Mutationsträger mit über neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit eine besonders früh beginnende und schwer verlaufende Form von Parkinson entwickeln.
Der Grund: Die Mutation führt dazu, dass das Protein Alpha-Synuklein seine dreidimensionale Form verändert und nicht mehr abgebaut werden kann. Das überschüssige und fehlgefaltete Protein sammelt sich in den betroffenen Zellen an und bildet mikroskopisch sichtbare Einschlüsse. Diese waren bereits vor über hundert Jahren von dem Berliner Neuropathologen Friedrich Lewy als mikroskopisches Charakteristikum der Parkinson-Krankheit entdeckt und nach ihm „Lewy-Körperchen“ genannt worden, freilich ohne etwas über ihren Ursprung oder ihre Zusammensetzung zu wissen. Alpha-Synuklein-Mutationen sind zwar eine sehr seltene Ursache der Parkinson-Krankheit, Lewy-Körperchen aus diesem Protein werden aber in den Nervenzellen praktisch aller Parkinson-Patienten gefunden, ob sie nun Mutationsträger sind oder nicht. Die Fehlfaltung und Anhäufung dieses Proteins ist wahrscheinlich die direkte Ursache der Nervenzellschädigung und damit ein zentraler Mechanismus der Krankheitsentstehung.
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Bisher ist sicher nur ein kleiner Teil dieses komplexen Wirkungsgefüges entschlüsselt worden. Es ist damit zu rechnen, dass noch viele weitere, bislang nicht identifizierte Genvarianten zur Krankheitsentstehung beitragen. Es wurde bislang auch noch kaum untersucht, ob und welche Wechselwirkungen es zwischen diesen Genvarianten und verschiedenen Umweltbedingungen gibt. Es liegen erste ernstzunehmende Hinweise vor, dass verschiedene Umweltgifte oder auch Gehirnerschütterungen bei Menschen mit entsprechender genetischer Prädisposition die Fehlfaltung der Proteine initiieren und damit eine langsame, aber unaufhaltsame Lawine der Proteinaggregation im Nervensystem auslösen könnte. Zu den angeschuldigten Umweltgiften gehören Pestizide. In Frankreich ist die Parkinson-Krankheit eine anerkannte Berufskrankheit bei Landwirten. Andererseits ist auch gut belegt, dass Rauchen, ungeachtet seiner vielen gesundheitsschädlichen Folgeschäden, und Kaffeetrinken vor Parkinson schützen. Auch hier sind die Mechanismen noch völlig unklar.
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Der Autor ist Direktor der Abteilung für Neurodegenerative Erkrankungen am Hertie-Institut für Klinische Hirnforschung, Universität Tübingen, sowie Koordinator der klinischen Forschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen. Als Neurowissenschaftler hat er bedeutende Beiträge zur Erforschung der genetischen und molekularen Grundlagen der Parkinson-Erkrankung und anderer Bewegungsstörungen geleistet. Er ist Autor von über 400 Publikationen und Koordinator von drei internationalen Forschungsverbünden. Für seine Erfolge wurde er mit dem Dingebauer-Preis für Parkinson-Forschung und dem K. J. Zülch-Preis der Max-Planck-Gesellschaft ausgezeichnet.
(Auszug aus der FAZ vom Mittwoch, 17. Mai 2017, Nr. 114, Seite N2)