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Wohngemeinschaft für Pflegebedürftige

Ausschlafen, den Speiseplan bestimmen, den Pflegedienst wechseln – in der Wohngemeinschaft für Pflegebedürftige in Rottenburg-Kiebingen ist viel Selbstbestimmung möglich. Ohne die Ehrenamtlichen und Helfer im Ort ginge das nicht. | Artikel aus der Stuttgarter Zeitung von Christine Keck.

Wer Lust hat, kocht in der Kiebinger Pflege-WG mit. Das dauert zwar mitunter länger, als wenn es die Festangestellten allein machen, aber es ist Teil des Programms. Foto: Horst Haas

[…] Platz für zehn Menschen und […] Freiheiten, wie sie in Heimen nur selten zu finden sind: Wer ausschlafen will, darf das tun. Der Frühstückskaffee steht auch für Spätaufsteher immer bereit. Gekocht wird frisch, mit allen, die Lust dazu haben, und vor allem nach deren Wünschen. Sogar den Pflegedienst wählen die Bewohner zusammen mit ihren Angehörigen selbst aus. Mitten in Kiebingen ist gegen alle Widerstände ein Modellprojekt gestemmt worden, das einem die Angst vor dem Altwerden nehmen kann.

So viele Ehrenamtliche, wie dafür benötigt werden, lassen sich nicht mobilisieren, hieß es im Vorfeld vonseiten der Kritiker. Die Stadt Rottenburg weigerte sich, den von einem Investor realisierten Neubau zu finanzieren. „Lasst uns doch den schönen Parkplatz“, forderten Anwohner.

Michael Lucke, einst Finanzbürgermeister im nahe gelegenen Tübingen und längst überzeugter Kiebinger, ist einer der Motoren des Projektes. „Wir wollten, dass die alten Leute im Dorf bleiben können und nicht nach Rottenburg oder weiter weg müssen“, sagt der 64-Jährige. Er machte sich stark für die erste Pflegeeinrichtung im 2000-Einwohner-Ort und gründete zusammen mit anderen Mitstreitern 2014 den Verein Dorfgemeinschaft Kiebingen.

„Der Verein ist Besitzer der Immobilie und übernimmt eine Wächterfunktion“, sagt Lucke, die Verantwortung liege bei den Senioren oder deren Angehörigen, das Bewohnergremium habe das Sagen. Die Plätze sind Kiebingern vorbehalten, sie kosten 2.600 Euro im Monat, die Warteliste ist lang.

[…]

Die Wohngemeinschaft könnte zen­traler kaum liegen. In der Grundschule gleich gegenüber ist immer etwas los, ­daneben ist der Sportverein, und selbst der Friedhof ist nah. Kurz vor Mittag hat es Fidel Langheinz ziemlich eilig, in die Wohnküche zu kommen. Er legt noch schnell seine Jacke im Zimmer ab und parkt den Rollator. Es riecht nach Gulasch. Die anderen sitzen schon am Tisch. „Hier schmeckt es immer“, sagt er. Das halbe Dorf hilft in der Wohngemeinschaft mit. Da gibt es die Krankengymnastin, die einmal die Woche zur Sportstunde kommt. Ehrenamtliche drehen mit den Senioren eine Runde im Flecken. Und Handwerker müssen nur selten bestellt werden, weil es im Ort fast immer einen gibt, der mit anpackt.

Neben dem Pflegedienst kommen die Alltagsbegleiterinnen regelmäßig ins Haus; sie machen alles, vom gemeinsamen Spielen bis zum Ausflug in die Umgebung. Schon lange bevor die Wohngemeinschaft eröffnet wurde, hat der Dorfgemeinschaftsverein angefangen, Personal auszubilden; viele Frauen im Ort meldeten sich an. Mittlerweile ist der vierte Kurs abgeschlossen, von den 60 Teilnehmern ist rund ein Drittel in der Wohngemeinschaft im Einsatz.

Eine von ihnen ist Margret Funk. Die 69-Jährige übernimmt im Minijob fünf Schichten im Monat, tatsächlich schaut sie bald täglich vorbei. Im Ehrenamt erledigt sie sämtliche Einkäufe – vom Gemüse bis zum Klopapier, ihr Mann füllt das Getränkelager auf oder radelt los, wenn noch etwas fehlt. „Ich kenne alle in der Wohngemeinschaft und auch ihre Eigenheiten, das ist das Schöne“, sagt die Kiebingerin, die früher als Erzieherin im Kindergarten gearbeitet hat. An diesem Mittag sammelt sie nach dem Essen die Tischsets, faltet die Lätzchen zusammen. Sie tröstet die 93-jährige Ottilie Wittel, die seit Sommer da ist und in Tränen ausbricht, als sie erzählt, dass sie an Weihnachten immer selbst gebacken hat. „Ottilie war zu Hause Chefin“, sagt Margret Funk und schenkt der Seniorin eine kurze Umarmung.

Im Alter in die Pflege-WG einzuziehen kann sich Funk gut vorstellen. „Ein klassisches Altersheim würde mich abschrecken“, sagt sie und erzählt von der Schicht am Vorabend. „Es ist was danebengegangen, da musste geputzt werden.“ Mal länger zu bleiben sei doch selbstverständlich.

Quelle: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.modellprojekt-in-rottenburg-kiebingen-im-alter-braucht-es-ein-ganzes-dorf.c67ad8a5-0c79-4ed8-8b6c-51962583e528.html?reduced=true

Stuttgarter Zeitung vom 22.01.2020

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