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Fortgeschrittener Morbus Parkinson: Therapieentscheidung auf einheitlicher Bewertungsbasis

Trotz Limitationen bieten die verfügbaren Klassifikationen eine wichtige Hilfestellung bei der Identifizierung von Parkinson-Patienten für spezifische Therapieansätze.

Das idiopathische Parkinsonsyndrom ist weltweit die zweithäufigste neurodegenerative Erkrankung, von der aktuell circa 6,1 Millionen Menschen betroffen sind, allein circa 300 000–400 000 in Deutschland (12). Während für die Diagnosestellung sowie die medikamentöse Behandlung im frühen Stadium der Erkrankung umfangreiche Leitlinienempfehlungen vorliegen, fehlen in der Regel konkrete Handlungsanweisungen oder Behandlungspfade für Patienten im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung (3). In diesem Krankheitsstadium leiden die Patienten sowohl an motorischen und auch nichtmotorischen Komplikationen, die durch die gängige Stadieneinteilung nach Hoehn und Yahr nur unzureichend beschrieben werden (4).

Da es weder eine klare Definition noch universelle, standardisierte Tests oder Biomarker zur Definition des fortgeschrittenen Erkrankungsstadiums gibt, stellt die Behandlung dieser Krankheitsphase die Ärzte und Therapeuten weiterhin vor große Herausforderungen (5). Vor Kurzem wurde daher das Konzept von MANAGE PD (Making Informed Decisions to Aid Timely Management of Parkinson’s Disease) entwickelt, um Ärzte im Therapiemanagement zu unterstützen und eine frühzeitige und adäquate Behandlung von Parkinson-Patienten auf einer einheitlichen Bewertungsbasis sicherzustellen (5).

MANAGE PD kann auch für Hausärzte und Geriater geeignet sein, um Patienten im fortgeschrittenen Stadium zu identifizieren, die von einer intensivierten Therapie profitieren können.

Daneben existieren weitere Definitionen des fortgeschrittenen Parkinson-Syndroms, zum Beispiel das Konzept der medikamentös ausbehandelten Fluktuationen (MAF) und der CDEPA- (Cuestionario De Enfermedad de Parkinson Avanzada = Questionnaire for Advanced Parkinson’s disease-)Fragebogen (67).

Symptome im fortgeschrittenen Stadium

Neben den motorischen Kardinalsymptomen Tremor, Rigor und Bradykinese treten im fortgeschrittenen Erkrankungsstadium zusätzliche motorische Symptome auf, welche die Behandlung verkomplizieren (89). Zu den motorischen Komplikationen zählen zum Beispiel vorhersagbare Wearing-off-Fluktuationen nach Einnahme einzelner Levodopa-Dosierungen, d. h. Wiedereintreten oder Verstärkung motorischer Symptome vor oder kurze Zeit nach der nächsten Levodopa-Einnahme. Weitere motorische Fluktuationen, die den Krankheitsverlauf relevant beeinträchtigen, sind partielle, fehlende oder verzögert einsetzende Wirkung einzelner Levodopa-Gaben, unvorhersagbare plötzliche Off-Zustände, End of dose- Rebound oder rasch wechselnde On-/Off-Fluktuationen. Außerdem können verschiedene Arten von Dyskinesien und Dystonien auftreten (10).

Erschwerend kommen im fortgeschrittenen Stadium auch nichtmotorische Komplikationen wie Blasenentleerungsstörungen, orthostatische Dysregulation, psychotische Symptome und demenzielle Entwicklung dazu (Tabelle 1). Die richtige Behandlung dieser Komplikationen stellte die zuständigen Ärzte häufig vor große Herausforderungen.

Tabelle 1 

Medikamentöse und nicht-medikamentöse Therapieoptionen

Im fortgeschrittenen Stadium der Parkinson-Erkrankung kommen nach Ausschöpfung der oralen/transdermalen medikamentösen Therapieoptionen insbesondere nichtorale, intensivierte Folgetherapien zum Einsatz. Zur Verfügung stehen hier neben der tiefen Hirnstimulation die Gabe von subkutanem Apomorphin sowie von intestinalem Levodopa, seit Kurzem auch in Kombination mit dem COMT-Hemmer Entacapon.

Von der tiefen Hirnstimulation profitieren insbesondere Patienten mit (L-Dopa-induzierten) Dyskinesien, Wirkfluktuationen oder einem ausgeprägten Ruhe-/Haltetremor. Eine subkutane Apomorphin-Therapie kann eingesetzt werden, um OFF-Dauer und Dyskinesien sowie insgesamt motorische Wirkfluktuationen im Tagesverlauf zu verbessern (11).

Zur Applikation von intestinalem Levodopa über eine PEJ-Anlage direkt ins proximale Jejunum stehen seit März in Deutschland 2 Verfahren zur Verfügung: Bereits seit einigen Jahren kann eine Behandlung mittels intestinaler L-Dopa-Infusion (Levodopa-Carbidopa Intestinal Gel; LCIG) erfolgen, um OFF-Dauer und Dyskinesien bei Patienten mit schweren motorischen Komplikationen zu verbessern (12). Seit Kurzem besteht zudem die Möglichkeit einer ebenfalls jejunalen Infusionstherapie von Levodopa/Carbidopa in Kombination mit dem COMT-Hemmer Entacapon (Levodopa-Entacapone-Carbidopa Intestinal Gel; LECIG) mit derselben Indikation. (13).

Definition des fortgeschrittenen Parkinson-Syndroms

Obwohl weltweit mehrere wissenschaftliche Expertengruppen an Kriterien zur Definition des fortgeschrittenen Parkinson-Syndroms („advanced Parkinson’s disease; aPD) arbeiten, konnte bisher keine einheitliche Akzeptanz der Bewertungskriterien erzielt werden (1415). Allerdings besteht ein relativer Konsens über bestimmte „robuste“ Bewertungskriterien wie zum Beispiel Grad der motorischen Fluktuation, Häufigkeit der Levodopa-Einnahmen am Tag oder dem Vorhandensein von speziellen nichtmotorischen Symptomen (16).

Bedingt durch das Fehlen klarer Kriterien und daraus resultierenden Unsicherheiten hinsichtlich des Zeitpunkts und der Auswahl des Therapieverfahrens für Patienten im fortgeschrittenen Stadium der Parkinson-Erkrankung kommt es häufig zu einer Prolongierung der oralen Therapiestrategien, teilweise mit mehreren frustranen Versuchen der Behandlungsoptimierung (14). Auf diese Weise werden nichtorale Folgetherapien (z.B. tiefe Hirnstimulation oder Pumpentherapien) oft erst verhältnismäßig spät als in Betracht gezogen, wodurch es zu vermeidbaren Beeinträchtigungen der Lebensqualität bei den Betroffenen kommen kann (1517).

Wenn trotz Anpassung der oralen/transdermalen Medikation keine ausreichende Kontrolle motorischer Komplikationen (Wirkfluktuationen, Dyskinesien) mehr möglich ist, wird allgemein von einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium ausgegangen. Im weiteren Verlauf kann der fortgeschrittene Morbus Parkinson in das Spätstadium, der Parkinson-Krankheit, übergehen. Hier treten die Levodopa-responsiven motorischen Komplikationen oft wieder in den Hintergrund der klinischen Beschwerden.

Im Spätstadium wird die Lebensqualität insbesondere durch nicht-Levodopa-responsive motorische Symptome, wie zum Beispiel posturale Instabilität, axiale Deformitäten oder rezidivierende Stürze sowie durch spezielle nichtmotorische Symptome, zum Beispiel Parkinson-Demenz, (visuelle) Halluzinationen oder auch urologische Komplikationen, beeinträchtigt (1819). Der Einsatz von nichtoralen Folgetherapien ist hier oft nicht mehr zielführend beziehungsweise Erfolg versprechend und sollte deshalb bereits vor Erreichen dieses Stadiums in Betracht gezogen werden.

Grafik 1 

Zur Verfügung stehende Definitionskonzepte: Eine europäische Expertengruppe hat in einem Delphi-Verfahren klinische Indikatoren für das Vorliegen eines fortgeschrittenen Krankheitsstadiums ermittelt. Es wurde ein Konsens erzielt, dass die folgenden motorischen und nicht motorischen Symptome sowie Einschränkungen der täglichen Aktivität Indikatoren für diese Krankheitsphase darstellen (20) (Tabelle 1).

Das MANAGE-PD-Konzept

Basierend auf den Konsensus-Kriterien des beschriebenen Delphi-Panels zur Definition des fortgeschrittenen Parkinson-Syndroms erfolgte in gemeinsamer Forschungs- und Entwicklungsarbeit zwischen der Firma Abbvie Inc. Medical Affairs und Health Economics and Outcomes, der Parkinson’s Foundation und einem internationalen Gremium von Spezialisten für Bewegungsstörungen die Entwicklung des MANAGE-PD-Tools. Dies bewertet in 2 Abschnitten Auftreten, Schweregrad und Häufigkeit motorischer, nicht-motorischer und funktioneller Symptome (Grafik 2):

Der Manage-PD-Algorithmus

Abschnitt 1 beinhaltet anhand mehrerer Einzelfragen eine Überprüfung auf unzureichende Kontrolle der aktuellen oralen Behandlung. Abschnitt 2 beurteilt anschließend die Eignung für die Einleitung einer nichtoralen, intensivierten Folgetherapie zur besseren Symptomkontrolle. Entsprechend der Antworten ordnet ein Algorithmus die Patienten einer von drei Kategorien zu (siehe Tabelle 2).

Das MANAGE-PD-Konzept

Vorteile und Limitationen: Ein Vorteil dieses Tools ist seine einfache Handhabung, wodurch es prinzipiell nicht nur von neurologischen Fachärzten, sondern insbesondere auch von Hausärzten und Geriatern genutzt werden kann, um Parkinson-Patienten im fortgeschrittenen Stadium früher zu identifizieren. Außerdem werden hier auch nichtmotorische Symptome als Entscheidungshilfe für die Klassifikation als fortgeschrittenes Krankheitsstadium berücksichtigt. Da die verwendeten Entscheidungskriterien allerdings von Neurologen mit besonderer Parkinson-Expertise ohnehin schon im klinischen Alltag angewandt werden dürften, ist für diese Gruppe der Zusatznutzen dieses Tools wahrscheinlich eher marginal.

Das MAF/D-Konzept

Das MAF/D-Konzept basiert auf einem pragmatischen Algorithmus für die Optimierung der oralen/transdermalen Medikation bei Fluktuationen und Dyskinesien (6). Von MAF (medikamentös ausbehandelten Wirkfluktuationen) spricht man, wenn trotz optimaler Anpassung der oralen oder transdermalen Medikation keine ausreichende Symptomkontrolle motorischer Komplikationen zu erzielen ist. Voraussetzung ist eine ausreichend lange Behandlung mit einer 4-fach-Kombination aus Levodopa, COMT-Hemmer, MAO-B-Hemmer und Dopaminagonist in optimaler Dosierung.

Bei persistierendem Vorhandensein von Dyskinesien sollte zudem ein additiver Behandlungsversuch mit Amantadin erfolgt sein. Wenn hierdurch keine Kontrolle der Dyskinesien erzielt werden kann, liegen MAF + Dyskinesien (MAF/D) vor. In dieser Situation besteht dann üblicherweise die Indikation zur Prüfung der Behandlung mittels Pumpentherapien oder tiefer Hirnstimulation als intensivierte Therapiestrategien (6).

Vorteile und Limitationen: Ein Vorteil dieses Tools ist die Fokussierung auf medikamentöse Strategien. Durch Anwendung dieses Algorithmus können Behandler medikamentöse Therapien schnell optimieren und erhalten klare Hinweise darauf, welcher medikamentöse Wirkmechanismus ggf. noch genutzt werden könnte, um die motorischen Komplikationen der Patienten zu verbessern. Allerdings finden die ebenfalls sehr beeinträchtigenden nichtmotorischen Symptome hier keine Berücksichtigung. Die Bewertung der bislang erfolgten medikamentösen Behandlungsstrategien und die Empfehlung weiterer komplexer Wirkstoffkombinationen wird im klinischen Alltag nicht durch Hausärzte und Geriater erfolgen, sondern durch Neurologen mit besonderer Parkinson-Expertise. Für diese Gruppe bietet das Konzept eine schnelle Orientierungshilfe.

Das CDEPA-Konzept

Dieses Konzept wurde im Rahmen einer Delphi-Studie in Spanien entwickelt, um mittels einfacher Screening-Fragen ebenfalls Patienten im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung frühzeitig detektieren zu können (21). Dabei wurde zwischen definitiven, wahrscheinlichen und möglichen diagnostischen Kriterien unterschieden (siehe Tabelle 3).

Das CDEPA-Konzept (modifiziert nach Martinez-Martin, et al., 2018)

Alle entsprechenden Fragen werden entweder mit „Ja“ (wenn Symptomatik vorhanden) oder „Nein“ (wenn Symptomatik nicht vorhanden) beantwortet.

Das Vorhandensein eines definitiven Symptoms führt automatisch zur Diagnosestellung eines fortgeschrittenen Parkinson-Syndroms.

Das Vorhandensein von 2 wahrscheinlichen Symptomen aus 2 verschiedenen Kategorien wird wie das Vorhandensein eines definitiven Symptoms gewertet.

Bei den möglichen Symptomen wird die Kombination aus einem motorischen oder nichtmotorischen Symptom sowie einem zusätzlichen neurokognitiven oder neuropsychiatrischen Symptom wie ein wahrscheinliches Symptom gewertet. In einer entsprechenden Validierungsstudie wurden unter Verwendung dieses Konzepts fast doppelt so viele Patienten einem fortgeschrittenen Parkinson-Stadium zugeordnet wie unter Verwendung herkömmlicher klinischer Standards (7).

Vorteile und Limitationen: In diesem Diagnostik-Tool finden ebenfalls motorische und nichtmotorische Symptome sowie Einschränkungen der täglichen Aktivität Berücksichtigung bei der Entscheidung, welche Patienten dem fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung zugeordnet werden sollten. Es handelt sich hier im Vergleich mit den beiden anderen um das komplexeste Klassifizierungssystem und operationalisiert das fortgeschrittene Stadium der Parkinson-Krankheit wie eine eigenständige Diagnose, die je nach dem Vorhandensein definitiver, wahrscheinlicher und möglicher Symptome mit ausreichender Sicherheit gestellt werden kann.

Besonders hervorzuheben ist, dass in dieses Klassifikationssystem auch die Dysphagie Eingang findet, ein Symptom, das von großer klinischer Relevanz ist (Aspirationspneumonien etc.), aber häufig unbeachtet bleibt. Die Zielgruppe besteht aus klinisch tätigen Neurologen, die ihren Tätigkeitsfokus im Bereich der Parkinson-Syndrome und Bewegungsstörungen haben. Für Hausärzte und Geriater dürfte dieses Tool eher weniger gut geeignet sein.

Einsatz im klinischen Alltag

Die vorgestellten Konzepte des fortgeschrittenen Morbus Parkinson können trotz bestehender Limitationen wichtige Hilfestellung bei der Einordnung von Parkinson-Patienten in ein fortgeschrittenes Stadium der Erkrankung und der Identifizierung von möglichen Kandidaten für spezifische Therapieansätze liefern. Entsprechend dem jeweiligen klinischem Setting können sie daher in der Versorgung von Parkinson-Patienten genutzt werden, zum Beispiel auch im Rahmen von Netzwerkstrukturen.

Für die Zukunft ist jedoch zu erwarten, dass jenseits der vorgestellten Konzepte eine immer detailliertere und individuellere Bestimmung des Krankheitsstadiums (nicht „one fits for all“-Prinzip) und der jeweils vorrangig zu behandelnden Symptomen möglich wird, wie dies bereits in einzelnen Symptom-Cluster-Analysen gezeigt werden konnte (2223).

DOI: 10.3238/PersNeuro.2021.07.12.03

Dr. med. Inga Claus,

Prof. Dr. med. Tobias Warnecke

Klinik für Neurologie mit Institut für Translationale Neurologie,

Universitätsklinikum Münster

Interessenkonflikt: Prof. Warnecke erhielt Berater- und Vortragshonorare sowie Reisekosten- und Kongressgebührenerstattung von AbbVie. Dr. Claus gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit2721

Quelle: https://www.aerzteblatt.de/archiv/220145