Früher ging es ums Seelenheil, heute interessiert sich der Mensch eher für weltliche Themen wie die eigene Verdauung. Wieso ist das so? Zu Besuch bei der Ärztin Anne Fleck in Hamburg, die mit ihren Betrachtungen zum Thema auf allen Kanälen präsent ist.
VON INGMAR VOLKMANN
Neulich in einem Restaurant in Südfrankreich im Angesicht von Gänsestopfleber und anderen Schweinereien: Eine Fotografin aus Paris schwärmt von der Hamburger Ärztin Anne Fleck. Eine Sprechstunde bei ihr habe das Potenzial, das Leben zu verändern. Ein weiteres Mitglied der Tischgesellschaft nickt wissend: Die ehemalige Fernsehschaffende habe Doc Fleck – unter diesem Label ist die Medizinerin bekannt – schon vor Jahren in eine große deutsche Talkshow eingeladen. Mit den Tipps der 52-Jährigen komme sie leichter durch den Alltag. Und der Dritte im Bunde gesteht, dass das 2021 erschienene Werk der Fachärztin für Innere Medizin, „Energy! Der gesunde Weg aus dem Müdigkeitslabyrinth*, seit Wochen auf dem Nachttisch liegt, bearbeitet und mit jeder Menge Post-its verschönert.
Diese Publikation schaffte es in die Bestsellerliste im Bereich Sachbuch und wurde in mehrere Sprachen übersetzt.
Der Podcast „Dr. Anne Fleck – Gesundheit und Ernährung“ stieg nach der ersten Folge direkt in die Top Ten der Apple Podcasts ein. Zuvor war Fleck bekannt geworden als Teil der Ernährungs-Docs im NDR-Fernsehen, ehe sie 2022 zu RTL wechselte, um eine neue Zielgruppe zu therapieren.
Ihr Erfolgsgeheimnis: Fleck schafft es, das Interesse der Deutschen an schwer Verdaulichem auf einfache und dennoch wissenschaftlich fundierte Weise zu befriedigen. Ihr Mantra lautet, etwas verkürzt gesagt: „Der Darm ist der Schlüssel zur Gesundheit.“ Indem sie eine Ernährung postuliert, die dem bis zu acht Meter langen Organ nicht schadet, sondern für mehr Energie sorgen soll, scheint Anne Fleck einen Nerv unserer Leistungsgesellschaft getroffen zu haben.
Vor zehn Jahren erschien das Buch „Darm mit Charme“ von Giulia Enders, das zum erfolgreichsten Sachbuch unserer Zeit avancierte: Weltweit verkaufte sich das in 40 Sprachen übersetzte Buch angeblich über vier Millionen Mal. Aktuell ist Enders in der Netflix-Doku „Hack Your Health: Die Geheimnisse unserer Verdauung“ zu sehen, an-
sonsten macht sie sich rar.
Stattdessen ist Anne Fleck auf allen Kanälen präsent, von Instagram bis Podcast. Dabei profitiert sie auch vom gesteigerten Interesse der Deutschen an ihrem tiefsten Inneren. In einer postreligiösen Gesellschaft scheint weniger das Seelenheil von Belang zu sein als das Funktionieren der eigenen Verdauungsorgane.
„Die deutschen Verbraucher legen großen Wert auf ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden. Sie suchen nach natürlichen und pflanzlichen Produkten, die ihnen bei Verdauungsproblemen helfen“, heißt es aktuell beim Statistik-Portal Statista. Im vergangenen Jahr gaben die Deutschen rund 800 Millionen Euro für Verdauungsmittel aus, Tendenz steigend.
Anne Fleck sieht das gesteigerte Interesse am Darm und an der Verdauung dagegen nicht als Produkt des Zeitgeistes an. „Nicht nur in der traditionellen chinesischen Medizin wird der Darm seit Jahrtausenden als der Bringer von Gesundheit oder Tod und Krankheit be-trachtet“, sagt sie beim Gespräch in ihrer von außen eher unscheinbar wirkenden Praxis in Hamburg, die nicht weit entfernt liegt vom Botanischen Garten und dem Internationalen Seegerichtshof.
Fleck, ausgestattet mit einer wie für Podcasts gemachten Stimme, betrachtet die Feinheiten des Darms etwas anders als andere Ärzte. Auf ihrem Schreibtisch steht ein Knollennasenmännchen von Loriot, das ihren Ausführungen hoch konzentriert zu lauschen scheint. „Die Medizin der Zukunft muss eine personalisierte Präzisionsmedizin sein und dabei zum Beispiel die Frage beantworten, wie es um die Darmschleimhaut-Barriere bestellt ist“, erklärt sie.
„Dabei handelt es sich um ein Gewebe, dünn wie eine kleine Frischhaltefolie, die leicht zerreißen kann. Wenn diese kleine, zarte Linie, die das Innen vom Außen trennt, in Gefahr ist, wird man krank. Es gibt ein bis zwei Marker, die man schnell bestimmen kann. Die gehören aber noch nicht zum Standard.“
Der Erfolg der omnipräsenten Wissenschaftlerin liegt wohl auch darin begründet, dass sie nicht nur Details des Darms betrachtet, sondern eben auch den Menschen als Ganzes, und für dessen Wohlbefinden einfach zu befolgende Ernährungstipps gibt, zum Beispiel: „Abends verzichte ich auf Rohkost, weil das die Schlafqualität nicht unbedingt verbessert.“
Außerdem predigt Anne Fleck keinen komplett asketischen Lebenswandel. „Ich halte nichts von schmallippigen Verboten“, sagt sie. Stattdessen versucht sie, ihre Anhänger von einer Ernährungsumstellung zu überzeugen: „Kohlenhydrate sollte man nicht verteufeln, sondern auf Qualität setzen, also optimal Vollkorn, und nach dem Grad der Bewegung einplanen. Erkaltete Kartoffeln oder Reis enthalten zudem viel resistente Stärke und haben einen guten Effekt auf die Darmflora“, erklärt sie. Ihre Mission:
„Wenn ich die Menschen von der Verdauung her ankurble wie früher das Auto, fangen sie wieder an zu rennen.“
Nach einem persönlichen Gespräch mit Fleck setzt eine so seltene wie gewinnbringende Mischung aus Beruhigung und Erkenntnisgewinn ein: „Die Botschaft muss sein: Leute, entspannt euch, ich liefere Hilfe zur Selbsthilfe.“ Oder:
„Wir müssen dem Darm Urlaubsphasen verschaffen und Ruhephasen gönnen, am besten zwölf bis 13 Stunden am Stück, dann setzt die faszinierende Errungenschaft der Selbstheilkompetenz ein.“
Ganz ohne Gebote kommt die Autorin aber natürlich auch nicht aus: „Energieräuber sind hoch verarbeitete Lebensmittel, die zu einem Blutzuckerabfall führen. Süßstoffe verändern das Darmmilieu. Dazu rate ich, nichts oder kaum Frittiertes zu essen, keine Pommes, keine Donuts und keine gesüßten Getränke.“ Die Geschichte lehrt uns: Weise Menschen erkennt man oft an dem Umstand, dass sie ihr eigenes Wissen in der Tradition der Philosophen der Antike eher relativieren. Auch die Ärztin und Autorin Anne Fleck reiht sich da ein. Ehe sie den Interviewer am Ende in den Hamburger Sommerregen entlässt, blickt sie ganz bescheiden in die Glaskugel und sagt:
„Wenn die Menschheit in 400 Jahren ihre Vergangenheit betrachten wird, dürfte die Erkenntnis lauten, dass wir in unserer Zeit erst am Anfang des Wissens um den Darm standen.“
Quelle: Wochenendmagazin der Stuttgarter Zeitung vom 15.6.2024